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Von Isolation zu Innovation: Warum wir Wohnen neu denken müssen

Apartments machen apart. Immobilien machen immobil.

Die Worte verraten schon ihre eigentliche Bedeutung. Apartment stammt vom französischen appartement, das wiederum auf à part zurückgeht – also „abgetrennt“. Immobilia kommt aus dem Italienischen und bedeutet „unbewegliches Eigentum“ – Güter, die nicht einfach getauscht, bewegt oder verändert werden können. Es handelt sich also nicht nur um Wohnformen, sondern um architektonische Ausdrucksformen von Isolation und Stillstand.

Und „immobil“ heißt nicht nur, dass die Wände nicht wegrennen. Oft heißt es auch: Ich bewege mich nicht mehr. Ein eigenes Haus kann für manche ein Hafen sein – für andere ein Anker am falschen Ort.

Für viele ist Eigentum Sicherheit, Stabilität, ein Lebensziel. Für andere bedeutet es vorgezogenen Stillstand – manchmal sogar einen vorläufigen Sarg aus Ziegeln und Kreditraten.

Ob Immobilie Freiheit oder Fessel ist, hängt weniger von Quadratmetern ab als von Lebensphase, Lebensstil und der Bereitschaft, den Ort zu wechseln, wenn sich das Leben ändert. Was für die eine Person Heimat bedeutet, ist für die andere ein Gefängnis mit Einbauküche.

In vielen sogenannten entwickelten Ländern – auch in Deutschland – ist Wohnen längst zu einem System der Fixierung geworden: durch hohe Preise, renditeorientierte Immobilienmärkte und steuerliche Anreize, die klassische Familienmodelle bevorzugen. Wer keinen Kredit abzahlt, hängt in einem Mietverhältnis fest. Und wer nicht verheiratet ist, zahlt oft drauf.

Doch was passiert, wenn selbst die Mittelschicht sich keinen Umzug mehr leisten kann? Wenn Ortswechsel – sei es aus beruflichen, klimatischen oder sozialen Gründen – zum Privileg werden?

Wir erleben eine stille Mobilitätskrise: nicht nur räumlich, sondern auch sozial und wirtschaftlich. Selbst in wohlhabenden Ländern fühlt sich Flexibilität wie ein Luxus an.

Das verbindet sich mit anderen Themen, die ich in meinem bisherigen Schreiben untersucht habe: der Kopfhörer-Pandemie, die uns im öffentlichen Raum voneinander isoliert, der Autokultur, die uns in Einzelkapseln fängt, und den Kreuzfahrtschiff-Städten, die zeigen, wie gelebte Gemeinschaft funktionieren kann.

Drei Wohnmodelle im Vergleich: Apartmenthäuser, Einfamilienhaussiedlung, Coliving-Gemeinschaft

Die Einsamkeits-Epidemie: Von Kopfhörern zu Grundrissen

Die gleichen Kräfte, die uns dazu bringen, Noise-Cancelling-Kopfhörer zu tragen, um unsere Umgebung zu kontrollieren, formen auch unsere Wohnentscheidungen. Wir bauen heute nicht nur akustische, sondern räumliche Isolationsblasen.

Isolation ist zum Statussymbol geworden.

So wie Kopfhörer uns in der U-Bahn voneinander abschotten, trennen moderne Wohnungen dauerhaft Nachbar:innen. Wir haben für Privatsphäre designt – aber gegen Gemeinschaft, für Komfort – aber gegen kollektive Resilienz.

Das Ergebnis: eine Epidemie der Einsamkeit – quer durch alle Alters- und Einkommensgruppen. Digital sind wir so verbunden wie nie. Physisch waren wir noch nie so isoliert.

Cohousing: Eine kollektive Antwort auf ein individuelles Problem

Was wäre, wenn wir das System umdrehen? Wenn wir nicht länger in Immobilien als Kapitalanlage investieren – sondern in Gemeinschaftsräume für Kreativität, Fürsorge und Selbstwirksamkeit?

Der Begriff Community stammt vom lateinischen communitas – „gemeinsam, öffentlich, gemeinsam genutzt“. Während Apartments uns voneinander trennen und Immobilien uns festsetzen, schaffen kollektive Wohnformen Beweglichkeit und Verbundenheit.

Wir brauchen mehr co-geplante und co-finanzierte Wohnformen – Modelle, die robust, anpassungsfähig und unabhängig von Großinvestoren sind. Keine Utopie, sondern erprobte Strukturen, die:

  • Einsamkeit reduzieren – ein soziales Gegenmittel zur Kopfhörer-Pandemie
  • Fürsorgearbeit teilen – Unterstützung im Alltag
  • Innovation fördern – dort, wo Menschen, Ideen und Perspektiven sich begegnen
  • Wohnsicherheit erhöhen – jenseits von Privateigentum

Viele der einflussreichsten Unternehmen der Welt begannen in geteilten Räumen: Garagen, WGs, Studentenzimmern oder Hackerhäusern. Nicht weil sie glamourös waren, sondern weil sie lebendig waren.

Dagegen führen klassische Apartments oder Einfamilienhäuser häufig zur Abkapselung. Weniger Kontakt. Mehr Gleichgültigkeit. Weniger Innovation.

Mein Valencia-Experiment: Nähe schafft Verbundenheit

Ein persönliches Beispiel: Ich habe ein paar Monate in einem Coliving-Haus in Valencia gelebt. Jede Woche zog jemand Neues ein – aus einem anderen Land, mit einer anderen Geschichte. In kürzester Zeit habe ich mich dort verbundener gefühlt als je zuvor.

Diese Erfahrung war wie das, was ich in fahrradfreundlichen Städten gelernt habe: Menschliche Nähe stärkt Gemeinschaft mehr als jede urbane Planung auf dem Reißbrett. So wie Radfahren uns mit der Umgebung verbindet, verbindet uns geteiltes Wohnen mit anderen Menschen.

Und Coliving geht weiter als WG-Leben. Ich kenne Menschen, die keine eigenen Kinder wollen, aber offen wären, gemeinsam mit anderen Kinder großzuziehen – inklusive Adoption oder der Aufnahme von Klima-Migrant:innen. Gemeinschaftliches Wohnen kann auch kollektive Fürsorge bedeuten. Nicht nur das Leben, sondern auch die Verantwortung wird geteilt.

Meine Lehre: Agil bleiben statt immobil werden

Für mich persönlich hat sich ein roter Faden gezeigt: Je weniger Dinge ich besitze, desto mehr bewege ich mich – im Kopf und geografisch. Jeder Einrichtungsgegenstand kostet Zeit: auswählen, aufbauen, putzen, reparieren, verkaufen. Diese „Operationskosten“ des Wohnens tauchen selten im Exposé auf, prägen aber den Alltag.

Darum bevorzuge ich heute:

  • kompakt und wandlungsfähig zu wohnen (Tiny House, kleine Wohnung)
  • Coliving mit geteilten Ressourcen wie Werkzeug, Garten, Werkbank, Lastenrad
  • geringere Fixkosten und höhere geografische Agilität

Das Ergebnis: Mehr Freiheit, schnelleres Lernen, leichtere Kurskorrekturen – und weniger Stillstand, der sich als Komfort tarnt.

Nähe macht uns empathisch – und handlungsfähig

Warum funktioniert das? Die Psychologie liefert Antworten:

Construal Level Theory erklärt: Je weiter entfernt etwas ist – räumlich, zeitlich oder sozial – desto weniger intensiv empfinden wir es. „Mein Nachbar hat Probleme“ wirkt anders als „Menschen sind einsam“.

Finite Pool of Worry besagt: Unser Mitgefühl ist begrenzt. Wir können nur eine gewisse Anzahl an Dingen gleichzeitig wirklich fühlen – der Rest wird abstrahiert.

Das bedeutet: Je näher uns etwas ist – körperlich oder emotional –, desto eher handeln wir. Nähe schafft Empathie. Empathie erzeugt Handlung.

Und genau deshalb ist die Kopfhörer-Pandemie so gefährlich – sie erzeugt künstliche Distanz. Wer sich nicht hört, kann sich schwer füreinander interessieren.

Abstand spaltet: Wenn Wohnen politisch wird

Räumliche Distanz schafft nicht nur Einsamkeit – sondern auch Polarisierung.

Wer ausschließlich mit Gleichgesinnten wohnt, verliert schneller das Verständnis für andere Lebensrealitäten. Studien zeigen: Segregation fördert politische Spaltung. Coliving dagegen bringt Menschen verschiedener Hintergründe zusammen – im Alltag, beim Essen, im Gespräch.

Nähe fördert nicht nur Empathie – sondern auch Demokratie.

Das erklärt mitunter auch, warum in Ostdeutschland – mit niedrigerer Einwohnerdichte, weniger Wirtschaft und schwächerer Infrastruktur – rechtspopulistische Parteien stärker sind. Wo Menschen isoliert leben, fehlt der tägliche Kontakt mit anderen Perspektiven. Abstand schafft Abgrenzung.

Wohnpolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik. Und wo wir wohnen, prägt, wie wir denken.

Der Wald weiß das schon

In der Natur überleben Bäume nicht alleine. Über unterirdische Pilznetzwerke – das sogenannte Wood Wide Web – können sie:

  • Nährstoffe teilen
  • Vor Gefahren warnen
  • Junge oder geschwächte Bäume unterstützen

Aber das funktioniert nur, wenn sie nahe genug beieinanderstehen.

Menschen sind nicht anders. Wir gedeihen in Systemen gegenseitiger Unterstützung. Cohousing bedeutet nicht nur Miete teilen oder eine gemeinsame Küche – es geht um Vertrauen, Sichtbarkeit und Signalübertragung.

Wenn wir resilientere und empathischere Gesellschaften wollen, müssen wir aufhören, für Isolation zu bauen.

Wettbewerbsfähigkeit neu denken

Das ist nicht nur eine soziale Frage – sondern eine wirtschaftliche. Wer auch morgen wettbewerbsfähig sein will, sollte jetzt beginnen, zu fördern:

  • Geteiltes Wohnen und Co-Eigentumsmodelle – wie die Idee der 15-Minuten-Stadt, übertragen auf Wohnformen
  • Bürgerräume für Begegnung und Kreativität – Orte, die nicht trennen, sondern verbinden
  • Faire Steuerpolitik für alle Lebensformen – auch für Singles, Co-Living oder Mehrgenerationenprojekte

Wo Menschen frei leben können, können sie auch frei denken. Und aus dieser Freiheit entsteht Innovation.

Die Mobilitätsverbindung – und die deutsche Realität

In Deutschland trifft diese Diskussion einen besonders wunden Punkt:
Viele ältere Menschen wohnen allein in großen Wohnungen oder Häusern – häufig mit günstigen Altverträgen. Sie wären offen für einen Tausch, für kleinere Wohnungen oder gemeinschaftliche Modelle. Aber bezahlbare Alternativen fehlen.

Gleichzeitig fehlt vielen das Wissen über neue Konzepte wie Mehrgenerationenwohnen, Cohousing oder Wohnprojekte mit gemeinschaftlichem Eigentum.

Dabei gibt es schon Lösungen, z. B. die Plattform bring-together.de, die Menschen mit ähnlichen Wohnvorstellungen zusammenbringt – altersunabhängig und lebensnah.

Fazit: Wir brauchen Nähe, nicht nur Quadratmeter

Apartments trennen. Immobilien fixieren. Gemeinschaft verbindet.

Die Lösung für die Einsamkeit unserer Zeit ist nicht mehr Fläche – sondern mehr Nähe. Nicht mehr Eigentum, sondern mehr Teilhabe. Nicht mehr individuelle Freiheit – sondern geteilte Möglichkeiten.

Die nächste große Idee muss nicht aus dem Silicon Valley kommen. Vielleicht entsteht sie in einem Gemeinschaftshaus in Leipzig, Bremen oder München.

Wir müssen es nur möglich machen.


Literatur und Inspiration:

  • Happy City von Charles Montgomery
  • Bowling Alone von Robert Putnam
  • Tod und Leben großer amerikanischer Städte von Jane Jacobs
  • Forschungen von Jan Gehl, Richard Florida und Christian Schmid

Dieser Artikel knüpft an Themen an, die ich bereits anderswo behandelt habe: die Kopfhörer-Pandemie, die uns voneinander entfernt, die Freiheit des Radfahrens und das Gemeinschaftspotenzial kompakter Städte. Sie zeigen uns, wie wir für Verbindung statt Vereinzelung gestalten können.